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Wie ich rechtgeleitet wurde
Widmung (des Autors)
Mein Buch ist ein bescheidenes Werk. Es ist die Erzählung einer Reise, die Geschichte einer neuen Entdeckung. Es ist keine Entdeckung im technischen oder naturwissenschaftlichen Bereich sondern in der Welt der religiösen und philosophischen Lehren.
Da sich die Entdeckung in erster Linie an den gesunden Menschenverstand richtet, mit welchem der Mensch sich gegenüber den anderen Kreaturen auszeichnet, möchte ich dieses Buch jedem gesunden Menschenverstand widmen.
Ein Verstand, der die Wahrheit untersucht und versteht, sie vom Falschen zu unterscheiden, der das Gesagte mit der Waage der Gerechtigkeit abwägt, wobei er die Waagschale der Vernunft bevorzugt. Ein Verstand, der Worte und Aussagen vergleicht und die Fähigkeit besitzt, zwischen dem Logischen und Unlogischen und zwischen dem Starken und Schwachen zu unterscheiden. Gott, Der Allerhöchste, sprach:
Jene, die auf das Wort hören und dem Besten davon folgen, das sind diejenigen, die Allah rechtgeleitet hat. Sie sind es, die Verstand haben. (Sure 39, Vers 18)
All diesen widme ich mein Buch und hoffe, dass Gott, Der Gepriesene und Erhabene, unseren Verstand und unsere Augen öffnet und dass Er uns führt und unsere Herzen erleuchtet und uns die Wahrheit deutlich macht, so dass wir ihr folgen können, und dass Er uns das Falsche unverhüllt sehen lässt, damit wir es meiden können, und uns zu Seinen aufrichtigen Dienern zählt, denn Er erhört und antwortet.
Muhammad al-Tijani al-Samaoui
Vorwort
m Namen Allahs, Des Gnädigen und Barmherzigen
Preis sei Allah, Dem Herrn der Welten; Der den Menschen aus Lehm erschuf und ihn in seiner besten Gestalt formte; Der ihn vor allen anderen Kreaturen auszeichnete und Seinen Engeln befahl, sich vor ihm zu verbeugen; Der ihn mit einem Verstand ausstattete, der Zweifel in reinen Glauben verwandelt; Der ihm zwei Augen gab und eine Zunge und Lippen und ihm die beiden Wege zeigte; Der ihm Propheten mit froher Kunde sandte, die ihn warnten und weckten und daran hinderten, der Verführung des Satans zu folgen; Der ihm befahl, nicht dem Satan zu dienen, denn der Satan ist sein Feind, und allein Allah zu verehren und Seinem Rechten Weg mit Verstand und festem Glauben zu folgen und nicht den Glauben seiner Vorväter und Freunde und Verwandten nachzuahmen, die ihren Vorgängern auch schon ohne klare Begründung gefolgt waren.
Wer könnte schönere Dinge sagen als der, der Allah anruft und aufrichtig handelt und sagt, dass er einer von den Ergebenen ist. Gottes Segen und Frieden und Grüße seien auf dem Gesandten, der als Gnade zu den Menschen kam, als Helfer der Unterdrückten und Schwachen, Retter der Menschheit vor dem Irrtum der Unwissenheit und zur Rechtleitung der aufrichtigen Gläubigen. Muhammad Ibn Abdillah, dem Propheten der Muslime, und seinen guten und geläuterten Nachkommen, die Allah unter allen Wesen auserwählt hat, damit sie ein Vorbild für die Gläubigen, ein Licht für die Wissenden und ein Zeichen für die Aufrichtigen seien. Und nachdem Gott von ihnen jede Unreinheit entfernt und sie unfehlbar gemacht hatte, befahl Er uns im Qur'an, sie zu lieben. Und Er versprach, dass jeder, der ihnen folgt, gerettet sei, und jeder, der es nicht tue, dem Untergang geweiht. Und seinen edlen und ehrenwerten Gefährten, die ihn unterstützten, stärkten und achteten und sich für ihren Glauben aufopferten. Und die seine Wahrheit kannten und ihm mit Überzeugung huldigten und auch nach ihm auf dem rechten Weg weitergingen und dafür dankbar waren. Möge Gott ihnen Gutes bescheren für das, was sie für den Islam und die Muslime getan haben.
Ein kurzer Blick auf mein Leben
Ich erinnere mich noch daran, wie mein Vater mich zum ersten Mal zur örtlichen Moschee mitnahm, in der während des Monats Ramadan die Tarawih-Gebete verrichtet wurden. Damals war ich zehn Jahre alt. Er stellte mich den betenden Männern vor, die daraufhin ihr Staunen nicht verbergen konnten.
Ich wusste schon vorher, dass der Qur'an-Lehrer es arrangiert hatte, dass ich für zwei oder drei Nächte die Ishfa‘-Gebete1 leiten sollte. Die Tradition verlangte von mir, mit einer Gruppe von Kindern des Viertels hinter der Gemeinde zu beten und auf den Imam zu warten, der zum zweiten Teil der Qur'an-Lesung oder der Sure Maryam erscheinen sollte. Mein Vater legte besonderen Wert auf meine Qur'an-Ausbildung, die wir sowohl in der Qur'an-Schule als auch daheim von einem blinden Verwandten erhielten, der den Qur'an auswendig konnte. Obwohl ich den Qur'an in diesem jungen Alter schon zur Hälfte auswendig beherrschte, achtete der Lehrer darauf, einen guten Einfluss auf mich auszuüben und mir die Rezitationsstellen zu zeigen, an denen man sich verbeugen muss. Darum prüfte er mich oftmals, um sich davon zu überzeugen, ob ich ihn verstanden hatte.
(1Das Tarawih-Gebet ist ein besonders Gebet an den Abenden des Monats Ramadan und wurde nach der Pause zwischen jeweils zwei Gebetseinheiten benannt. Es wird jedoch auch Ishfa‘-Gebet genannt, weil es nach sunnitischer Ansicht für den Betenden am Tage des Gerichts Fürbitte leisten wird.)
Nachdem ich die Prüfung bestanden und mein Beten und Rezitieren vollendet hatte, wie mein Vater und mein Lehrer es erwartet hatten, kamen alle Männer, um mir und meinem Vater zu gratulieren und dem Lehrer für seine Mühen und Allah für den Islam zu danken und um Seinen Segen für den Lehrer zu erflehen.
Die darauf folgenden Tage werde ich niemals vergessen. Ich erhielt derart viel Anerkennung und Lob und wurde über unser Viertel hinaus in der ganzen Stadt bekannt. Jene Nächte des Ramadan hinterließen ihre religiösen Spuren in mir, und jedes Mal, wenn ich verwirrt war, fühlte ich, dass da eine außergewöhnliche Macht war, die mich wieder auf die Beine stellte. Jedes Mal, wenn ich die Schwäche der Seele und die Bedeutungslosigkeit des Lebens spürte, erhoben mich diese Erinnerungen wieder auf die höchsten spirituellen Ebenen und entfachten in meinem Bewusstsein wieder die Flamme des Glaubens, um die Verantwortung tragen zu können.
Jene Verantwortung, die ich von meinem Vater übernommen hatte, oder vielmehr von meinem Lehrer, um in solch jungen Jahren die Gemeinde im Gebet zu leiten, vermittelte mir immer das Gefühl, niedriger zu sein als das, wonach ich strebte, oder weniger zu sein als das, was man von mir erwartete.
Deshalb verbrachte ich meine Kindheit und meine Jugend in verhältnismäßig geradliniger Weise, der es aber nicht an Unterhaltung und ausgelassenem Spiel und an einem Streben nach Wissen und Nachahmung mangelte. Eine göttliche Fürsorge umgab mich, welche mich in Gelassenheit und Ruhe von den anderen Brüdern abhob, und weil ich nicht vom rechten Weg auf die schiefe Bahn abglitt.
Ich sollte nicht versäumen, meine Mutter zu erwähnen, die einen großen Einfluss auf mein Leben hatte, weil sie meine Augen öffnete und mich die kurzen Suren des Heiligen Qur'ans lehrte, wie sie mir auch das Beten und die rituelle Sauberkeit beibrachte. Sie kümmerte sich besonders um mich, weil ich ihr erster Sohn war und vielleicht weil sie die zweite Frau meines Vaters war, deren Vorgängerin schien, mit ihr konkurrieren zu wollen und hatte schon Söhne, die fast so alt waren wie meine Mutter.
Was den Namen “Tijani” betrifft, so hat er eine besondere Bedeutung innerhalb der Samaoui-Familie, welche den Tijani-Sufi-Orden angenommen hatte, als sie einmal von einem Sohn des Scheich Sidi Ahmad al-Tijani besucht wurde, der aus Algerien nach Gafsa gekommen war. Dort beeinflusste er viele von meiner Sippe, insbesondere die gebildeten und wohlhabenden Familien, die diesen Sufi-Orden unterstützten. Und wegen meines Namens wurde ich im Hause der Samaouis, welches mehr als zehn Familien bewohnten, sehr beliebt, vor allem aber bei denen, die dem Tijani-Orden angehörten. Aus diesem Grund kamen viele der in jener von mir bereits erwähnten Nacht des Monats Ramadan anwesenden Scheichs, um meinen Kopf und meine Hand zu küssen und um meinem Vater zu gratulieren, indem sie sagten: “Dies ist die Fülle des Segens unseres Meisters Scheich Ahmad al-Tijani.” Es ist wert zu erwähnen, dass der Tijani-Orden weitestgehend in Marokko, Tunesien, Libyen, Sudan und Ägypten verbreitet ist und dass seine Anhänger darin auf irgendeine Art fanatisch sind.
Sie besuchen nicht die Grabstätten der anderen Weisen, weil sie glauben, sie hätten ihr Wissen untereinander ausgetauscht, wohingegen Scheich Ahmad Tijani seine Weisheit direkt von Allahs Gesandten (s.) erhalten haben soll, obwohl er erst dreizehn Jahrhunderte nach dem Propheten (s.) gelebt hatte. Sie behaupten auch, dass Scheich Ahmad Tijani pflegte, im Wachzustand mit dem Gesandten Allahs (s.) zu reden, und dass die vollkommenen Gebete, die vom Scheich geleitet wurden, besser wären als das vierzigmalige Durchlesen des Heiligen Qur'ans.
Doch um es kurz zu fassen, möchte ich hier enden, über den Tijani-Orden zu schreiben, und wenn Gott will, werde ich an anderer Stelle noch einmal darauf zurückkommen.
So wuchs ich in diesem Glauben auf und entwickelte mich wie jeder andere Jugendliche in unserer Stadt. Wir waren allesamt – Allah sei Dank – sunnitische Muslime der Lehre des Imams Malik Ibn Anas, Imam von Dar al-Hijra, obwohl sufitische Orden in Nord-Afrika sehr verbreitet sind. In unserer Stadt Gafsa allein gab es die Orden der Tijaniyya, Qadiriyya, Rahmaniyya, Salamiyya und Isawiyya. Und all diese Orden hatten ihre Unterstützer und Anhänger, die ihre Gedichte, Zikr (Anrufungen Gottes) und Ziele bei besonderen Anlässen wie Hochzeiten oder Abendversammlungen für Qur'an-Lesungen, Beschneidungen oder Gelübde auswendig rezitieren konnten. Trotz einiger negativer Aspekte spielten diese Sufi-Orden eine wichtige Rolle beim Erhalt der religiösen Riten und der Ehrerbietung für die Heiligen und Weisen.
Die Pilgerfahrt zu Allahs Heiligem Haus
Ich war achtzehn Jahre alt, als sich die Nationale Tunesische Gesellschaft der Pfadfinder darauf einigte, mich als einen von sechs Repräsentanten der Republik Tunesien an der ersten Konferenz für Islamische und Arabische Pfadfinder teilnehmen zu lassen, welche in Mekka stattfand. Ich stellte fest, dass ich der jüngste Teilnehmer dieser Mission war und auch der ungebildetste, da sich unter uns noch zwei Schulleiter, ein Lehrer aus der Hauptstadt und ein Journalist befanden, und als Fünfter jemand, dessen Funktion ich nicht kannte, außer dass er ein Verwandter des Bildungsministers war.
Unsere Reise war eher indirekt, denn wir landeten zuerst in Griechenlands Hauptstadt Athen, wo wir uns drei Tage aufhielten, um von dort aus zur Hauptstadt Jordaniens, Amman, weiterzufliegen, in der wir vier Tage verweilten. Danach erreichten wir Saudi-Arabien, wo wir an der Konferenz teilnahmen und die Rituale der Großen und Kleinen Pilgerfahrt vollzogen.
Die Gefühle, die ich empfand, als ich zum ersten Mal das Heilige Haus Gottes betrat, kann ich nicht beschreiben. Mein Herz schlug so fest, dass ich glaubte, es würde meinen Brustkorb sprengen, und es fühlte sich so an, als würde es herauskommen wollen, um dieses geschichtsträchtige Haus selbst sehen zu können, und meine Tränen flossen so sehr, dass ich fürchtete, ich könne nie mehr aufhören zu weinen. Es kam mir so vor, als würde ich von den Engeln über den Pilgern hinweggetragen und dem Ruf Allahs antworten: “Allah! Hier bin ich, Dein Diener ist zu Dir gekommen .... Labbayk Allahumma Labbayk!” Und wie ich anderen Pilgern zuhörte, konnte ich erfahren, dass sie lange Zeit warten und ihr ganzes Leben lang sparen mussten, um nach Mekka kommen zu können, während ich plötzlich und unvorbereitet gekommen war.
Ich erinnere mich, wie mein Vater sich weinend von mir verabschiedete, als er das Flugticket sah und erfuhr, dass ich zur Hadsch gehen würde, und mich zum Abschied küsste und sagte: “Herzlichen Glückwunsch, mein Sohn. Allah wollte, dass du die Wallfahrt vor mir in diesem jungen Alter vollziehst, weil du der Nachkomme von Sidi Ahmad al-Tijani bist. Bete für mich an Allahs Haus, dass Er mir vergebe und mir die Wallfahrt zu Seinem Heiligen Haus beschere.”
Ich fühlte, dass Allah Derjenige war, Der mich zu Sich rief, mich mit Seiner Fürsorge umgab und mich zu jenem Ort brachte, nach dem sich jeder sehnt, doch viele sterben, ohne ihn aufgesucht zu haben, da sie keine Möglichkeit dazu hatten. Wer war also würdiger als ich, dieser Einladung zu folgen? Somit stürzte ich mich in meine Gebete und die Umrundungen der Kaaba, trank vom Wasser des Brunnens Zamzam und bestieg die Hügel, wo die Menschen wetteiferten, zur Höhle Hira auf dem Berg Nur zu gelangen. Dabei war nur ein junger, sudanesischer Pilger schneller als ich, womit ich "der Zweite von Zweien" war. Als ich dort ankam, warf ich mich auf den Boden als würde ich mich im Schoße des großen Propheten anschmiegen und seinen Atem spüren. Welch tiefe Wirkung diese Eindrücke und Erinnerungen in mir hinterließen, die ich nie vergessen werde!
Eine weitere göttliche Fürsorge brachte jeden, der mir begegnete, dazu, mich zu mögen und mich nach meiner Adresse zu fragen, um mit mir in Kontakt bleiben zu können. Sogar meine Reisegefährten mochten mich sehr, obwohl sie mich seit unserem ersten Zusammentreffen zur Reisevorbereitung in Tunis geringgeschätzt hatten. Doch ich war geduldig mit ihnen in der Hoffnung, dass sich ihre Meinung ändern würde. Und tatsächlich wurden sie während der Reise, der Konferenz und der Wallfahrt mir gegenüber aufgeschlossener, insbesondere als sie in Gegenwart der Delegationen sahen und hörten, wie ich die Wettbewerbe mit meinem Wissen an Gedichten und Kasiden überragend gewann. So kehrte ich mit mehr als zwanzig Adressen von Freunden verschiedenster Herkunft in meine Heimat zurück.
Unser Aufenthalt in Saudi-Arabien dauerte fünfundzwanzig Tage, während denen wir Gelehrte trafen, deren Reden wir zuhören durften, wobei einige Lehren der Wahhabiten mich beeindruckten, von denen ich mir wünschte, dass alle Muslime ihnen folgten. In jenen Momenten glaubte ich, Gott habe sie unter Seinen Dienern auserwählt, damit sie Sein Heiliges Haus bewachen, da sie reiner und gelehrter seien als alle anderen Menschen. Immerhin hat Allah sie mit dem Erdöl gesegnet, um ihnen zu ermöglichen, sich um die Pilger zu kümmern und über ihr Wohlbefinden wachen zu können.
Bei meiner Rückkehr in meine Heimat trug ich ein saudisches Gewand um den Kopf gebunden, und die Leute kamen zu meinem Empfang, den mein Vater organisiert hatte. Eine große Menschenmenge war an der Haltestelle versammelt. Ganz vorne warteten der Scheich des Issawiyya-Ordens, der Scheich des Tijaniyya-Ordens und der des Qadiriyya-Ordens mit Trommeln und Banadiren.2
(2Eine Trommel ähnlich dem Tamburin, welche hauptsächlich von den Sufis bei feierlichen Anlässen wie Beifallsbekundungen und mystisch-religiösen Veranstaltungen eingesetzt wird. Es wird auch erzählt, dass Sidi Abdussalam al-Asmar der Erste gewesen sein soll, der die Banadir benutzte, und dass seine vom Himmel gefallen sein sollen.)
Sie zogen jubelnd und jauchzend mit mir durch die Straßen der Stadt, und immer, wenn wir an einer Moschee vorbeikamen, stellten sie mich kurz auf ihre Türschwelle, während die Menschen miteinander wetteiferten, mich zu küssen. Insbesondere die Alten küssten mich übermäßig viel, während sie vor Sehnsucht nach dem Besuch der Kaaba weinten und weil sie sich wünschten, einmal am Grabe des Gesandten Allahs gestanden haben zu können. Auch waren sie nie zuvor einem so jungen Pilger wie mir begegnet, erst recht nicht in unserer Stadt.
Damals erlebte ich die glücklichsten Tage meines Lebens, und sogar die angesehensten Bewohner unserer Stadt richteten uns ihre Glückwünsche aus. Jedes Mal wenn von mir verlangt wurde, dass ich die erste Sure des Qur'ans und ein Bittgebet in Gegenwart meines Vaters rezitiere, genierte ich mich oft und traute mich manchmal doch. Wenn die Gäste dann gegangen waren, kam immer meine Mutter mit Weihrauch und Amuletten, mit denen sie mich vor dem Bösen der Neider und des Satans beschützen wollte.
Mein Vater verbrachte drei aufeinanderfolgende Nächte bei den Tijaniten, wo er jeden Tag ein Lamm als Gastmahl opferte. Die Leute stellten mir alle möglichen Fragen, mit deren Beantwortung ich Bewunderung und Lob über die Saudis hervorrief und für ihre Mühen für die Verbreitung des Islam und Unterstützung der Muslime.
Von nun an nannten mich die Bewohner der Stadt "Hadsch" (Pilger), und fast ausschließlich wurde diese Bezeichnung auf mich angewandt. Sodann wurde ich noch bekannter, insbesondere in religiösen Kreisen wie den "al-Ikhwan al-Muslimun", und ich zog von einer Moschee zur anderen, um den Menschen das Küssen von Grabstätten und das Berühren ihrer Wände zu verbieten. Ich bemühte mich sehr, sie davon zu überzeugen, dass es sich dabei um Götzendienst handele, und ging mit meinem Eifer so weit, freitags vor der Predigt des Imams islamischen Unterricht zu geben. Dabei eilte ich von der Abu-Ya‘qub-Moschee zur Großen Moschee, da das Freitagsgebet in ihnen zu unterschiedlichen Zeiten stattfand: Während es in der ersten zur Mittagszeit verrichtet wurde, betete man in der zweiten erst nachmittags.
Manchmal waren sogar die meisten Schüler der Mittelschule, an der ich die Fächer "Technologie" und "Grundlagen der Technik" unterrichtete, bei diesen Versammlungen anwesend. Es gefiel ihnen dort so sehr, weil ich mir viel Zeit nahm, um jene finsteren Gedanken aus ihren Köpfen zu vertreiben, die ihnen einige atheistische, materialistische und kommunistische Philosophieprofessoren – derer es zu viele gibt – vermittelt hatten. Stets warteten sie schon geduldig auf den Beginn der religiösen Debatten oder suchten mich teilweise daheim auf, was mich darauf brachte, mir einige religiöse Bücher anzuschaffen, die ich sogleich verschlang, um ein Niveau zu erlangen, das mir ermöglichte, ihre zahlreichen Fragen zu beantworten.
In dem Jahr, als ich die Wallfahrt unternahm, wünschte sich meine selige Mutter, dass ich noch vor ihrem Tode heiratete, denn sie war es, die die Kinder ihres Ehemannes großgezogen und deren Hochzeiten miterlebt hatte, während es doch ihr größter Wunsch gewesen war, mich einmal als Bräutigam zu sehen. Also erfüllte Gott ihr diesen Wunsch, als ich ihrer Bitte Folge leistete und ein Mädchen heiratete, das ich nie zuvor gesehen hatte. Sie erlebte auch noch die Geburt meines ersten und zweiten Sohnes, bevor sie zwei Jahre nach meinem seligen Vater, der zwei Jahre vor seinem Tode noch die Pilgerfahrt vollzogen hatte, zufrieden starb.
Die libysche Revolution verlief erfolgreich trotz der Umstände, welche die Muslime und Araber wegen der katastrophalen Niederlage im Krieg gegen Israel erleiden mussten, woraufhin sich uns jener Knabe als Revolutionsführer voranstellte und anfing, im Namen des Islam zu sprechen, in der Moschee als Imam zu fungieren und zur Befreiung Jerusalems aufzurufen. Auf diese Weise verlockte er mich und viele junge Muslime der arabischen und islamischen Staaten, die Liebe zur Bildung zu vergessen und zu Beginn der Revolution gemeinsam mit vierzig Intellektuellen zu einem Besuch nach Libyen zu reisen. Von dort kehrten wir begeistert durch das, was wir sahen, zurück und frohlockten über die Zukunft, die wir uns für die aufrichtige arabische und islamische Gemeinschaft in der ganzen Welt erhofften.
Während der ganzen Zeit korrespondierte ich ununterbrochen mit einigen meiner Freunde, wodurch der Wunsch nach einem Wiedersehen immer größer wurde. Als einige meiner engsten Freunde mich drängten, sie zu besuchen, bereitete ich mich auf eine lange Reise während den dreimonatigen Sommerferien vor. Ich nahm mir vor, über den Landweg von Libyen über Ägypten, von dort mit dem Schiff nach Libanon, dann nach Syrien, Jordanien und schließlich Saudi-Arabien zu fahren, wo ich die kleine Wallfahrt durchführen wollte, um meinen Bund mit der wahhabitischen Lehre zu erneuern, die ich bis dahin so enthusiastisch unter den jungen Studenten und den gut besuchten Moscheen propagiert hatte.
Meine Person war schon über meine Stadt hinaus in vielen benachbarten Städten bekannt geworden, und zuweilen hörten sich sogar Durchreisende meine Vorträge nach den Freitagsgebeten an, um dann in ihrer Heimatstadt davon zu erzählen. Bis die Nachricht auch den Anführer eines in Tozeur – Geburtsort des berühmten Dichters Abul Qasim al-Shabbi – bekannten Sufi-Ordens, Scheich Ismail al-Hadifi, erreichte. Jener Scheich hatte Anhänger und Getreue in der gesamten Tunesischen Republik und im Ausland wie beispielsweise Frankreich und Deutschland.
Also erhielt ich eine Einladung von ihm durch seine Stellvertreter in Gafsa, die mir einen langen Brief schrieben, in welchem sie mir für meine Dienste am Islam und den Muslimen dankten und behaupteten, dass mich all dies jedoch Allah nicht näher bringen würde, wenn ich mich nicht einem weisen Scheich anschließen würde. Diese Aussage untermauerten sie mit den bei ihnen geläufigen Aussprüchen: "Wer keinen Scheich hat, dessen Scheich ist der Satan" und "Ein jeder braucht einen Scheich, der ihn rechtleitet, sonst fehlt ihm die Hälfte des Wissens". Und sie verkündeten mir froh, dass der "Größte seiner Zeit" – damit meinten sie Scheich Ismail – mich unter den Menschen auserwählt habe, zu den “Vertrautesten seiner Vertrauten” zu zählen.
Ich freute mich unbeschreiblich und weinte gerührt durch die göttliche Fürsorge, welche mich immer noch vom Hohen zu noch Höherem trug und vom Schönen zu noch Schönerem, weil ich stets Sidi al-Hadi al-Hafyan gefolgt war, einem sufitischen Scheich, dem zahlreiche Tugenden und Wunder nachgesagt werden, wie auch Sidi Salih Bassaih und Sidi al-Gilani und anderen zeitgenössischen Sufi-Scheichs.
Also wartete ich voller Ungeduld auf dieses Zusammentreffen, und als ich das Haus des Scheichs betrat, begann ich sofort, neugierig in die Gesichter der Anwesenden zu schauen. Die Runde bestand aus Anhängern, unter denen sich Scheichs befanden, die in weiße Gewänder gehüllt waren. Nach der Begrüßungszeremonie erschien schließlich auch Scheich Ismail, woraufhin sich alle sofort erhoben, um unterwürfig seine Hand zu küssen. Der Stellvertreter machte mich mit einem Zeichen darauf aufmerksam, dass dies der Scheich sei, doch ich schenkte ihm kein großes Interesse, da ich etwas völlig anderes erwartet hatte als das, was ich sah. Ich hatte mir in meiner Phantasie ein Bild des Scheichs gemalt, das sich an den Tugenden und Wundern orientierte, von denen mir der Stellvertreter des Scheichs und seine Anhänger berichtet hatten. Aber alles, was ich sah, war ein gewöhnlicher Mann ohne Ausstrahlung von Würde oder Stolz.
Während der Sitzung stellte der Stellvertreter mich dem Scheich vor, welcher mich warm empfing und aufforderte, zu seiner Rechten Platz zu nehmen und etwas zu essen. Nach dem Essen startete die rituelle Zeremonie, und der Stellvertreter stellte mich erneut vor, damit ich dem Scheich huldige. Danach gratulierten mir die Anwesenden, indem sie mich umarmten und segneten. Aus ihren Gesprächen konnte ich heraushören, dass sie schon viel über mich gehört hatten, was mich ermutigte, einigen Antworten des Scheichs, die er auf die Fragen einiger Leute gab, zu widersprechen, wobei ich meine Meinung mit Belegen aus dem Qur'an und der Sunna untermauerte. Doch einige der anwesenden Männer nahmen mir dieses Verhalten übel und bezeichneten es als schlechtes Benehmen in Gegenwart des Scheichs, denn sie waren gewohnt, in seinem Beisein nicht ohne seine Erlaubnis zu sprechen.
Der Scheich bemerkte die angespannte Atmosphäre und wusste, seine Gefährten geschickt zu beruhigen, indem er sagte: "Der, dessen Anfang brennend war, dessen Ende wird strahlend sein." Die Anwesenden fassten dies als Auszeichnung für mich auf und als Zusicherung für ein strahlendes Ende und gratulierten mir dafür. Aber der Scheich war clever und erfahren genug, mir keine Zeit zu lassen, mit meinem störenden Verhalten fortzufahren, und erzählte uns die Geschichte eines Gelehrten, der sich zu einigen Weisen setzen wollte. Der Weise sagte zu ihm: "Steh auf und wasche dich!" Der Gelehrte ging und wusch sich. Als er kam, um sich zu setzen, sagte er ein zweites Mal zu ihm: "Steh auf und wasche dich!" Also ging der Gelehrte und wiederholte die Waschung gründlicher als zuvor, weil er dachte, er hätte sich beim ersten Mal nicht gut genug gewaschen. Und als er abermals kam und sich setzen wollte, befahl der Weise ihm, sich erneut zu waschen. Da weinte der Gelehrte und sagte: "Herr, ich habe mich bereits von meinem Wissen und Taten gereinigt. Nun bleibt mir nichts mehr außer das, was Allah mir durch deine Hände beschert." Darauf erlaubte der Weise ihm, sich zu setzen.
Ich wusste, dass ich mit dieser Geschichte gemeint war, genauso, wie sich auch die anderen Männer darüber im Klaren waren, und deshalb tadelten sie mich, nachdem der Scheich hinausgegangen war, um sich auszuruhen. Sie überzeugten mich, in Gegenwart des Scheichs zu schweigen und ihn zu respektieren, damit meine guten Taten nicht ungültig werden, und rezitierten diesen heiligen Vers:
Ihr Gläubigen! Erhebt nicht eure Stimme über die Stimme des Propheten und sprecht nicht laut zu ihm wie ihr untereinander laut sprecht, damit eure Taten nicht ungültig werden, ohne dass ihr es bemerkt! (Sure al-Hujurat (49), Vers 2)
Somit erfuhr ich, wo meine Grenzen lagen, und befolgte nunmehr stets die Befehle und Ratschläge des Scheichs. Dadurch wurde ich ihm immer vertrauter und verbrachte sogar drei Tage bei ihm, in denen ich ihm viele Fragen stellte – teilweise um ihn zu prüfen. Der Scheich wusste dies und erzählte mir, dass der Qur'an Deutliches und Verborgenes auf sieben Ebenen enthalte. Er öffnete überdies seine Truhe für mich und zeigte mir sein persönliches Dossier, in welchem sich die Namen einer Reihe von Frommen und Gelehrten fand, deren Stammbaum über zahlreiche Heilige wie Abu al-Hassan al-Shazili bis zu Imam Ali Ibn Abi Talib – möge Allah sein Antlitz ehren und zufrieden mit ihm sein – zurückreichte.
Ich möchte nicht versäumen zu erwähnen, dass die von ihnen abgehaltenen Sitzungen spiritueller Natur waren und dass der Scheich sie stets mit einer einfachen Lesung aus dem Heiligen Qur'an eröffnete. Danach begann er, einige Gedichte vorzutragen, die von der Abneigung gegenüber dem irdischen Leben und der Sehnsucht nach dem Jenseits handelten, wobei ihn seine Anhänger auswendig begleiteten. Sodann wiederholte der rechts neben dem Scheich Sitzende die Qur'an-Lesung, und sobald er sagte: "So spricht Allah die Wahrheit", begann der Scheich erneut, Gedichte aufzusagen, wobei ihn wiederum die Anhänger begleiteten. Auf diese Weise fuhren die Anwesenden fort, auch wenn es nur ein einzelner Qur'anischer Vers war, so nahmen sie an seiner Rezitation Anteil, bis sie anfingen, im Rhythmus nach rechts und links zu schaukeln und der Scheich gefolgt von den anderen aufstand, um gemeinsam einen Kreis zu bilden, in dessen Mitte sich der Scheich befand. Dann begannen sie, langsam "Ah, ah, ah, ah" zu rufen, während der Scheich sich in der Mitte des Kreises um die eigene Achse drehte und jeweils zu einem von ihnen ging. Kurz darauf wurde das Tempo höher, und alle fingen an, im gleichmäßigen aber irritierenden Rhythmus der Trommeln zu hüpfen, um schließlich ermüdet stehen zu bleiben. Nachdem der Scheich ein abschließendes Gedicht rezitiert hatte, küssten sie nacheinander seinen Kopf und seine Schultern.
Auch ich nahm manchmal an solchen Séancen teil, jedoch nur in nachahmender Weise, da dies meinen eigenen Glaubensgrundsätzen widersprach, welche mir sagten, dass ich Gott niemanden zugesellen und keinen außer Ihm anflehen darf. Ich fiel weinend zu Boden, und mein Gewissen spaltete sich zwischen zwei widersprüchlichen Ideen. Die erste, die sufitische Idee, basiert auf spirituellen Erfahrungen wie Furcht und Weltentsagung und dem Bestreben, sich Gott mit Hilfe von Heiligen und Weisen zu nähern. Die zweite, die wahhabitische Idee, lehrte mich, dass dies alles Polytheismus sei, den Er niemals verzeihe.
Wenn also nicht einmal Muhammad – Allah segne und schütze ihn – helfen oder vermitteln kann, welchen Wert haben dann jene Heiligen und Rechtschaffenen nach ihm?
Trotz der neuen Position, die der Scheich mir gegeben hatte, indem er mich zu seinem Stellvertreter in Gafsa ernannte, war ich innerlich nicht ganz überzeugt, obgleich ich gelegentlich mit den Sufi-Orden sympathisierte und fühlte, dass ich fortfahren sollte, sie der Heiligen und Rechtschaffenen zuliebe zu respektieren und zu würdigen. Oft argumentierte ich mit Allahs Worten: Und geselle Allah keine anderen Götter bei! Es gibt keinen Gott außer Ihm! (Sure al-Qisas (28), Vers 88) Und wenn jemand mir antwortete, dass Allah spricht: O ihr Gläubigen! Seid gottesfürchtig und sucht Mittel, um Ihm näher zu kommen, (Sure al-Ma‘ida (5), Vers 35) erwiderte ich ohne zu zögern, was mich die saudischen Gelehrten gelehrt hatten, nämlich dass die "Mittel" die guten Taten seien. In Wahrheit war ich zu jener Zeit völlig verwirrt und durcheinander, aber von Zeit zu Zeit besuchten mich einige Anhänger in meinem Haus, wo wir die Imara (eine Art spirituelle Zeremonie) veranstalteten.
Die Nachbarn fühlten sich jedoch durch unsere lauten "ah"-Rufe gestört, und da sie nicht vermochten, sich persönlich bei mir zu beschweren, taten sie es durch meine Frau. Sobald sie es mir berichtete hatte, bat ich die Gruppe, die Sitzungen von nun an bei sich zu Hause abzuhalten, und sagte ihnen, dass ich schon bald eine dreimonatige Reise ins Ausland antreten werde. Dann verabschiedete ich mich von meiner Familie und meinen Freunden und versprach meinem Gott, Ihm nichts und niemanden beizugesellen.
Quelle: http://www.islam