vier Pforten und vierzig Stufen
Wie lässt sich das elementare Wertesystem der „vier Pforten und vierzig Stufen erklären? (Dört Kapı Kırk Makam)
Bei den vier Pforten (auch Tore genannt), von denen in der Philosophie des Alevitentums die Rede ist, handelt es sich also um „[Göttliches] Gesetz (Scharia oder Şeriat), Weg (Tarikat), Erkenntnisfähigkeit (Marifet) und Wahrheit (Hakikat)".
Die Person, die diese vier Pforten mit ihren jeweiligen zehn Stufen beschreitet, wird Talip oder Seyran genannt.
Die erste Pforte ist die Scharia. Dies ist der Ausdruck für die Ebene, auf der der alevitische Weg seinen Anfang hat und gleichbedeutend mit dem formalen Sinn des Korans.
Hiermit ist nicht primär der Verhaltenskodex des orthodoxen Islam, welches ebenfalls Scharia heißt, gemeint. Es dient nur anlehnend an diesen Begriff zur Veranschaulichung, dass in dieser Pforte lediglich mit den Sinnen erfassbare Prinzipien beinhaltet sind.
Alle Welt- und Vernunfterkenntnisse sind in dieser Pforte inbegriffen. Hacı Bektaş Veli hat über diese Erkenntnisse, die auf eine richtige Wahrnehmung und Erfahrung der Welt gerichtet sind, einmal gesagt: „Die Dunkelheit der Materie wird von der Vernunft erhellt." Hierbei handelt es sich um zehn Stufen. Der Makam-Begriff, sinngemäß als Stufe zu übersetzen, kann mit den Schulklassen verglichen werden, die ein Schüler absolvieren muss, wobei er durch Bildung auf jeder Stufe neue Fähigkeiten erwirbt. Dabei handelt es sich um folgende Stufen:
1. Der Glaube an Gott
2. Das Studium der Propheten und Heiligen
3. Das Erlernen der Wissenschaft
4. Die Bereitschaft zu verzeihen
5. Die Ehe suchen und außereheliche sexuelle Verhältnisse meiden
6. Sündenfrei essen und sich kleiden
7. Sich nicht von der Gesellschaft isolieren
8. Die Empfindung von Liebe und Mitleid
9. Die Vermeidung von unehrlichem Erwerb
10. Die Menschen zum Guten lenken und vom Bösen abwenden.
Die Pforte des „Weges (Tarikat)" ist die Bezeichnung für den speziellen Weg, um zum eigentlichen Sinn des Glaubens und auch des Korans vorzustoßen, und gleichzeitig Ausdruck des Zieles, eine über die Scharia hinausgehende Stufe zu erreichen.
Der Weg ist für das Alevitentum von hoher Bedeutung. Denn es ist für jemanden, der nicht den richtigen Weg eingeschlagen hat, unmöglich, zu einem vollkommenen und vollendeten Menschen (İnsan-i Kamil) zu werden.
Deshalb ist es wichtig, darauf zu achten, auf dem Weg zu bleiben, wenn man ihn einmal gefunden hat. Yunus Emre hat hierzu diese Zeilen gedichtet:
„Die Sırat-Brücke ist feiner als ein Haar,
und schärfer als ein Schwert.
Möchte auf dieser Brücke stehen,
Möchte Häuser darauf bauen."
Yunus Emre drückt mit diesen Worten die tiefe Bedeutung und Feinheit dieses Weges aus. Es gibt eine große Zahl an Reden und Liedern (Nefes, Deyiş), die sich auf diese Bedeutung und Feinheit beziehen. Dieser Weg wird auch als der „richtige Weg" (Sırat-al mustakim) bezeichnet und symbolisiert den richtigen Lebensweg in jedweder Hinsicht während des Daseins in dieser Welt. Wer den richtigen Weg gefunden hat, braucht nach diesem Glauben nichts mehr zu befürchten. Dies ist der Moment, an dem sich Gott als ein Ozean der Liebe offenbart.
Während die Pforte der Scharia mehr für die Massen bestimmt ist, ist die Pforte des Weges (Tarikat) auf das Individuum ausgerichtet. Auf dieser Ebene beginnt der Einzelne damit, aufrichtig zu leben, sich von seinen Fehlern zu befreien und sich zu erneuern. Da dieser Weg das Ziel hat, zum Wesen und zum inneren Sinn der Religion vorzustoßen, stehen die „Wegweiser" bzw. „Wegbegründer" (Mürşit, Pir) im Vordergrund, an die sich der Talip durch die Initiation binden muss.
Die Tarikat-Pforte hat zehn Stufen:
1. Alles mit Liebe und Genügsamkeit zu tun
2. Sich nicht von der Gesellschaft isolieren
3. Maßvolle Haltung und maßvolles Verhalten
4. Nur an Gott gebunden sein
5. Der Kampf mit dem Selbst (gegen Eifersucht, Geiz, Faulheit usw.)
6. Der Dienst ohne Gegenleistung
7. Der Standpunkt zwischen Angst und Hoffnung
8. Auf Äußeres Ansehen verzichten
9. Die Bindung an einen Wegweiser (Mürşit, Pir)
10. Sich auf den Weg Gottes begeben
Bei der dritten Pforte handelt es sich um die Erkenntnis-Pforte (Marifet). Dies bedeutet, dass hier das Individuum sowohl auf der Ebene des Wortes bzw. auf formaler Ebene als auch auf der Ebene des Wesens (batın) eine Einsicht gewonnen hat und danach handelt. Im Zeichen der Marifet-Pforte erntet der Mensch die Früchte seines Wissens und wird zu einem Wohltäter der Menschheit. Diese Pforte hängt ebenfalls unmittelbar mit einem individuellen Reifungsprozess zusammen und ebenfalls wieder zehn Stufen:
1. Tugendhaftes Verhalten
2. Angst haben, vor allem jemandem Unrecht zu tun
3. Innere Zufriedenheit
4. Die Fähigkeit, immer und überall die Wahrheit zu sagen
5. Schamgefühl
6. Freigiebigkeit
7. Der Besitz von Wissen
8. Die Ruhe und das Vermeiden von übereilten Entscheidungen
9. Das Sehen mit dem Auge des Herzens und der Seele
10. Selbsterkenntnis
Die vierte und letzte Pforte ist die Pforte der Wahrheit (Hakikat), wobei es darum geht, den wahren Sinn der Religion zu finden. Ziel ist die Vervollkommnung des Menschen und somit der Einklang mit dem Göttlichen. Durch diese Pforte ist es möglich, einen Platz im Herzen der Menschheit zu erlangen, zu Gott zu finden und zum „vollkommenen Menschen" (İnsan-i Kamil) zu werden. Auf der Ebene dieser Pforte gewinnt der Mensch Einsicht in die Geheimnisse des Universums und der Schöpfung und wird zu einem Individuum, das keinem lebenden Wesen Schaden zufügt. Dieser Zustand wird als der eines „Erwählten unter den Geschöpfen" bezeichnet. Auch diese letzte Pforte hat zehn Stufen:
1. Bescheidenheit
2. Die Menschen mit ihren guten und schlechten Seiten nicht verurteilen
3. Das Hab und Gut mit anderen teilen
4. Die vollständige Überwindung des Selbst, des Egos
5. Keinem Geschöpf irgend einen Schaden zufügen
6. Die Wahrheit sagen und danach handeln
7. Die richtigen Vorbilder wählen
8. Keine übernatürlichen Taten oder Wunder vollbringen
9. Geduld
10. Die Fähigkeit, mit dem geistigen Auge zu beobachten
Eine im Alevitentum häufig verwendete Metapher soll das Prinzip der vier Pforten und vierzig Stufen veranschaulichen: Vergleicht man die vier Pforten und die Göttlichkeit mit Honig, so ist die erste Pforte, die Scharia, die wörtliche Beschreibung des Honigs. Lediglich durch Worte wird versucht, den Honig zu beschreiben.
Die Pforte der Tarikat hingegen erlaubt es, den Honig zu berühren. Der Suchende, also der, der Gott sucht (Talip), spürt nun die Konsistenz des Honigs und kann teilweise das Wissen, welches er bereits in der Scharia gelernt hat, übertragen.
In der Pforte des Marifets kostet der Talip vom Honig und schmeckt bzw. spürt erstmals all jenes, wovon er zuvor gehört oder es nur oberflächlich berührt hat.
Durch die letzte Pforte wird der Talip zum Honig, sprich er vereint sich mit Gott.
Almanya Alevi Gençler Birliği